GEORG 1937 - 2017
Ein Rückblick — so ungefähr war es!
Völlig unnötigerweise, infolge unkontrollierter Fleischeslust, wie dannzumal allgemein üblich nicht verhütet, erblickte ich als solides Vorkriegsmodell am 2. Juli 1937, vor langer Zeit also, mitten im Tausendjährigen Reich, als Sohn von Karl Borromäus und seiner Frau Ottilie, geb. Vodermair, am hellichten Tage die Dunkelheit der Welt. in diesem «Lebenslauf» versuche ich, eine kleine Auswahl mehr oder weniger interessanter Begebenheiten und Eindrücke seit diesem glorreichen Tag zu Papier zu bringen, die mir spontan in den Sinn kommen und die in der frühen Kindheit etwas verworren, ab der Schulzeit aber ins Gehirn eingebrannt sind. ★ Nach dem grossen Stress meiner Geburt (das nennt man heute wirklich so!) folgte gleich der zweite Schreck: da waren ja schon eine Menge kleinere und grössere Ludstocks, darunter mehrere Schwestern, die mir später einmal mit grosser Wahrscheinlichkeit jede Menge Ärger verursachen würden. Aber nicht genug damit, plärrten mir in den folgenden Jahren immer wieder noch kleinere Ludstocks die Ohren voll — ob die mir wohl einmal gegen die bestehende Übermacht zur Seite stehen würden? Sei optimistisch, wart’s ab. Nach anfangs eher ruhigen Jahren ist plötzlich Betrieb, Sirenen zerreissen die Stille, Lichtfinger geistern durch die Nacht, man rennt tagsüber und auch des Nachts in den Luftschutzkeller, weint und betet. Und eines Tages fährt man verbotenerweise, im «Schnauferl» versteckt unter Säcken und Hausrat, hinaus aufs Land, zu Verwandten, wo man in einem Schwimmbad wohnt, statt dort zu baden. Nach kurzer Zeit wird man weitertransportiert in ein kleines Waldhäuschen — Hänsel und Gretel lassen grüssen! Ein Weiher ist da, ein kleiner Fluss, aber natürlich ist es strikte untersagt, sich einem dieser Gewässer zu nähern, die «Grossen» halten sich allerdings nicht an solche Verbote. Aber eigentlich ist es schön hier im Wald, man erlebt verzauberte Weihnachten, sieht echte Osterhasen durch die Gegend flitzen und ähnliches. Kleine Schwestern sehen Hexen, lassen Brüder «unterschwimmen» und Grossväter verzweifeln, die zu allem Überfluss auch noch von wilden Schafböcken malträtiert werden. Ein älterer Bruder «muss in den Krieg»; was immer das auch bedeuten mag, es ist ein sehr trauriges Erlebnis. Ein jüngerer Bruder läuft mit scharfen Handgranaten in der Hosentasche durch die Gegend, versprengte oder desertierte Soldaten verstecken sich in Schafställen oder Höhlen, was natürlich niemand wissen darf. Alles wäre eigentlich ganz unterhaltsam, aber der grosse Horror beginnt unbarmherzig: Lehrer! Zwar ist da anfangs ein relativ freundliches Fräulein, das wegen der Luftangriffe sogar zu uns in den Wald kommt, aber schon bald folgen erste üble Eindrücke im Schulhaus in Valley, zum Glück nicht für sehr lange, denn eines schönen Maientages kommen andere Soldaten, Amis, die uns aus unserer beschaulichen Ruhe reissen — der Krieg ist aus. Um nicht fremde Leute ins leerstehende Haus nehmen zu müssen, gehts schon bald zurück nach München, natürlich zu Fuss, was sind schon 30 Kilometer für ein knapp achtjähriges «gross»deutsches Kind, das auf diesem Trip auch noch gleich den ehemaligen «Feind» kennenlernt in Form von schwarzen Soldaten, die schwarze Cadbury-Schokolade verteilen — die erste Schokolade meines damals sehr jungen Lebens. Nach einigermassen erträglichen vier Jahren in der Volksschule ein weiterer Horror; wegen guten Zeugnisnoten folgt das brutale Verdikt: Gymnasium! Völlig unvorbereitet noch «gescheiteren» Lehrern ausgeliefert, entfliehe ich voll Entsetzen diesem Bildungstempel unerlaubterweise nach wenigen Monaten, um zurückzukehren in eine Schule, wo wenigstens nur ein einzelner Lehrer versucht, einen zur Schnecke zu machen — trotz ausdauernder Versuche dieser im Dritten Reich verdorbenen, befehlsgewohnten, autoritätsgläubigen, geistig und charakterlich minderwertigen Gewaltmenschen, einen zu knechten, wird die restliche Schulzeit dank gekonnter Notwehr ohne allzugrosse Schäden überstanden. Ein häufig unbeherrschter Vater und eine durch diesen ständig unter Druck stehende Mutter verhindern es, von einer richtig schönen Kindheit zu reden, aber schlecht hatten wir es eigentlich nicht. Was dann, 1951? Du kannst einigermassen lesen und rechnen, also könntest du Schriftsetzer werden. Klingt nicht schlecht, und obwohl völlig ahnungslos, was das bedeutet, wird diesem Votum des Berufsberaters begeistert zugestimmt — was ich übrigens bis heute nicht bereut habe. Die Lehrzeit bei einem alten Ehepaar ist hart und lang, aber die beiden waren im Krieg dreimal ausgebombt, kein Wunder, ist ihre Einstellung zum Leben nicht mehr unbedingt positiv. Die Lehrer in der Berufsschule sind kein Haar besser als ihre Kollegen in der Volksschule, trotzdem gelingt die Gehilfenprüfung‚ und plötzlich ist man unabhängig — die Freiheit winkt. Die bis dato vor allem als Ministrant, später im Rahmen der «Katholischen Jugend» gelebte intensive Bindung an die Religion verflacht etwas, bleibt aber grundsätzlich erhalten. Der Glaube an den einen liebenden Gott hat mir immer wieder geholfen, aus den Irrungen und Wirrungen des Lebens einigermassen unbeschadet herauszufinden. Nach mühsamer Überzeugungsarbeit (eine ältere, «pädagogisch gebildete» Schwester wollte es verhindern!) erlaubt ein sehr besorgter Vater 1955 dem 18jährigen die Reise ins Ausland; ein Anfang ist gemacht. Und ohne recht zu wissen, warum zweierlei Kleider im Schrank hängen, kommt die Konfrontation mit der sündigen Welt. Eine erste Fleischbeschau in der Amsterdamer «Gracht» macht zwar neugierig, wird aber unbeschadet überstanden. Weniger gut verläuft da schon die erste Begegnung mit der Schweiz (besser: mit Schweizern), die einem jungen Mann, der frisch aus München kommt, nicht glauben wollen, dass er schon beschwipst ist, wenn er an einem Bier nur riecht: also wird emsig geübt — schliesslich muss man einen Feind kennen, damit man ihn bekämpfen kann! Aber nicht, um besser üben zu können, sondern der schlechten Arbeitsbedingungen in Holland wegen schleppen mich diese wohlmeinenden Schweizer Kollegen über Paris mit in ihr Vaterland, nach Bern, wo ich nach anfänglichen Schwierigkeiten (keine Arbeitserlaubnis) ein zweites Mal auf die Welt komme. Ich werde nicht nur gegautscht, sondern erfahre auch plötzlich auf sensationelle Weise, woher die verschiedenen Kleider im Schrank resultieren. Und mit praktischen Erprobungen dieses neuen Wissens und dem Weiterüben in anderen lebenswichtigen Fächern — nebenbei helfe ich auch noch, als Metteur eine Zeitung herzustellen — vergehen drei Jahre wie im Flug. Vielleicht sollte man doch einmal schauen, was zu Hause läuft — gedacht, getan. Einige Jobs in München, eine kurze Liebschaft — die Fremde, diesmal der Norden, lockt wieder. Erst in Schweden wird bemerkt, dass vom grossen Zahltag noch viel mehr als in Deutschland dem Vater Staat abzuliefern ist, und das Weiterüben in der vorher erwähnten Disziplin ist dort relativ teuer — nach sechs Monaten und einem mehrwöchigen Zwischenspiel in Hamburg und Frankfurt wird auch diese Übung abgebrochen. Und dann folgt nach wenigen gemeinsamen «akademischen» Tagen ein wichtiges Ereignis: die jungverheirateten Zieglmeiers treten in mein Leben, Obwohl enttäuschend «bartlos» (Sepp hatte Erika von einem feuerroten Bart vorgeschwärmt) beginnt an Silvester 1960 etwas, was Schiller in seiner Ode an die Freude so umschreibt: «Wem der grosse Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein...» Und mit dem von der Katholischen Jugend her bestehenden kleinen Freundeskreis (vor allem Herbert und Erwin mit Maria), aus dem in der Folge auch grossartige Freundschaften resultieren — beginnen turbulente Monate: gemeinsam mit Bruder Anton wird ein erster Faschingsball bei Ludstocks «im Keller» inszeniert (was fast zu einer — inzwischen leider vergessenen — Tradition wurde), Trinkgelage in München und an allen möglichen Orten folgen, «feuchte» Autofahrten zu Bergtouren und Skiausflügen‚ nächtelange, teilweise «schön- bis hochgeistige» Diskussionen um des Kaisers Bart, die den nächsten Arbeitstag dann ungebührlich lang werden lassen. Von besorgten Eltern werden liebe Freunde im Sinne des bewährten Sündenbocks zu «schwindsüchtigen Zigarettenbürscherln» und «Saufsepps» umfunktioniert, wenn die eigenen Sprösslinge hin und wieder einen winzigen Schluck zur Brust nehmen oder mit Glimmstengeln die Luft verpesten — es waren herrliche Zeiten. Und trotzdem: im Mai 1961 zieht es mich in die Fremde, diesmal nach Thun, zu einem Kollegen aus Holland; auch Bruder Toni flüchtet vor dem Soldatenspielen zeitweise nach Thun, und dort geht die Festerei mit dem neuen Kollegen Sepp und seiner Frau Marlies und anderen weiter, einer Frau übrigens, bei der das Gehirn wie selbstverständlich den Gedanken formuliert: So sollte die Frau sein, die ich heiraten möchte. Es war nur ein Gedanke, doch davon später. In München treten Grahammers furchtlos vor den Traualtar. Nach einem schönen Sommer mit herrlichen Ausflügen zum Murtensee und der Prognose eines frustrierten Arbeitgebers — «Wenn dr so wiitersuufet, verjagts nech!» geht es erst einmal wieder zurück nach München, wo man alte Gewohnheiten auffrischt und erwähnten Arbeitgeber zu widerlegen sucht. Nach einem Kurzbesuch über Ostern in Wien folgt der Entschluss, diese Stadt besser kennenzulernen, was dann auch passiert. Nach unbestätigten Gerüchten meist gutunterrichteter Kreise kamen damals gute Freunde sogar auf die Idee, einen von dort «retten» zu müssen — glaubt mir, so schlimm war das alles gar nicht. Wie dem auch sei, irgendwann hat man auch von Wien und seinen Verlockungen genug, also geht’s ein weiteres Mal zurück zum Ursprung. Eine ältere Schwester hat zwischenzeitlich einen Meteorologen mit einem «Pieps» geheiratet; ausser viel Ärger für sie resultiert aus dieser Verbindung ein damals schutzloser Knabe, an dem jede Menge Tanten und Onkel ihre Erziehungskünste ausprobieren; trotzdem oder vielleicht deswegen schafft er es bis zum Doktor der «Rechtsverdreher» — Gratulation! Mit einem interessanten Job in einer «Buchdruckwerkstätte» bei einem liebenswerten Ehepaar wird der Lebensunterhalt verdient, man kehrt zurück zum soliden, früher schon erprobten Lebenswandel: viel arbeiten, wenig trinken. Bruder Anton heiratet trotz seiner unbeirrbaren Meinung, der Mann sei polygam veranlagt, Gerdi, die Mutter seines Sohnes. Die Siemens-Zimmervermittlung verschlägt etwas später Hermann und mit ihm die netteste «Preussin», die man sich nur vorstellen kann, in unser Haus, was zu einer weiteren schönen, bis heute dauernden Freundschaft führt. Wie soll's auch anders sein, die beiden werden in den bestehenden Kreis integriert, gemeinsam wird dem Alkohol zuleibegerückt, dass es eine wahre Freude ist, sehr zum Leidwesen des immermüden Hermann, der häufig grollt und bald notfallmässig ein anderes Zuhause sucht, aber auch da wird ständig Bier nicht nur geliefert... Die Bekanntschaft mit Marlies und Sepp wird in all den Jahren nur durch je einen Besuch am Murtensee und der beiden in München gepflegt. Das Leben verläuft arbeitsam, ruhig und friedlich, schliesslich Kommt man auch langsam in ein Alter, wo man sesshaft werden sollte. Das Wissen, warum die zweierlei Kleider im Schrank hängen, droht in dieser Zeit fast wieder zu verkümmern, dann trotz einer damals angeblich erfolgten «sexuellen Revolution» erstickt eine unterschwellige Fixierung auf eine feengleiche Traumgestalt alle Aktivitäten in dieser Richtung. Freunde drohen sogar, einen nicht mehr zu sich einzuladen, «weil man immer allein erscheine». und dabei ist es doch so schön, als Alleinstehender langjährigen Ehepaaren, die inzwischen Eltern sind, gute Ratschläge zu erteilen... Um der bis dahin an 16 verschiedenen Arbeitsplätzen im ln- und Ausland angeeigneten Berufspraxis auch theoretisches Wissen nachzuliefern, wird mit der Buchdrucker-Akademie geliebäugelt, wozu im «Telekolleg» das nötige Rüstzeug geholt werden soll, aber... ♣ plötzlich kommt ein Brieflein aus dem Berner Oberland: Marlies berichtet, dass sie ihren ungetreuen Sepp verlassen hat, sich von ihm scheiden lassen will. Welche Perspektive — die Frau, in die ich mich vor vielen Jahren ohne es zu wollen rettungslos verliebt hatte, war plötzlich frei. Nicht ganz zwar, aber ich kannte ja ihre Kinder, Esther. Claudine und Ralf, diese kannten mich; mit grosser Freude nehme ich die Einladung nach Schwanden bei Brienz an. Und dort wird wahr, was ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu träumen gewagt hatte — überglücklich und mit einem grossen Ziel vor Augen geht’s zurück nach München: Marlies sollte meine Frau werden. Nach ihrem «ja, ja, ja» einige Wochen später und einer schnellen Stellensuche in Jona wird der Job in München gekündigt, werden die Koffer (falsch, es war nur ein einziger ziemlich ramponierter Pappkoffer) in den alten VW-Käfer verladen. und ab geht’s in ein neues Leben. Ja, ausser dem Nötigsten und einer grossen Begeisterung brachte ich wirklich nichts mit in dieses neue Leben. Aber plötzlich lernte ich sparen, und mit der Kinderalimente sollte es zu schaffen sein. An Weihnachten ist Verlobung, im Frühling 1969 Heirat, Umzug mit Kind und Kegel in eine preiswerte Firmenwohnung folgen. Und wieder möchte ich mit Schiller schwelgen: «…wer ein holdes Weib errungen, stimme in den Jubel ein.» Meine Familie, meine Freunde sind begeistert von Marlies, auf der anderen Seite bin ich in ihrem Familien- und Freundeskreis willkommen. Ob es mir wohl gelingt, ein guter Ehemann, ein guter Ersatzvater zu sein? Damals glaubte ich es, im Rückblick bin ich nicht mehr so sicher. Jedenfalls war es für mich eine wunderschöne, unbeschwerte Zelt. Und es gab eine Steigerung: Markus. Das Miterleben seiner Geburt und die folgenden Jahre sind mit die glücklichsten Eindrücke meines Lebens. Ein trauriger Moment ist der frühe Tod des Schwiegervaters, eines sehr liebenswürdigen Menschen (1974). Ungefähr in dieser Zeit bringt in München Herbert als Bereicherung die «wilde» Evi in die Runde. Von vielen neuen Bekanntschaften entwickelt sich lediglich die mit Kollege Bruno zu einer freundschaftsähnlichen Beziehung. Durch meine Heirat kam natürlich auch beruflich einiges in Bewegung; zwar ohne grossen Ehrgeiz, aber die sich bietenden Chancen ergreifend und rechtzeitig die neue Technologie akzeptierend, die aus traditionsbewussten Schwarzkünstlern computerabhängige Satztechniker macht. langt es doch zum Leiter der neuen Filmsatzabteilung. Keine Minute zu früh, denn Marlies wünscht sich ein Haus, und ich hatte schliesslich einmal versprochen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen; die finanzielle Grundlage schafft sie allerdings selbst durch den Verkauf ihres Elternhauses in BrienzwiIer‚ die Bankschulden sind erträglich. Zur Traumfrau hatte ich nun das Traumhaus, alles scheint bestens, aber bald zeigt sich, dass allzu wohlmeinende Schwiegermütter manchmal eine belastendere Hypothek sind als Bankschulden. Trotzdem ist das Leben nach wie vor schön. Die grossen Kinder sind inzwischen selbständig, Esther heiratet, schon bald werden wir Grosseltern. Auch als uns die längst bewältigt geglaubte Vergangenheit — der erste Mann von Marlies war 1977 vierzigjährig gestorben — in Form von Drogen- und Alkoholproblemen der Kinder einholt, bleibt der ungebrochene Optimismus, dass wir es schaffen können. Obwohl es manchmal aussichtslos scheint, geben wir nicht auf, aber letztendlich gewinnt doch immer wieder das Heroin. In dieser Zeit hätte ich vielleicht hellhöriger sein müssen, denn erste depressive Stimmungen bei Marlies verdunkeln den Horizont, aber ich glaube ihren Beteuerungen, dass diese nichts mit mir zu tun haben. Und wir haben ja auch meistens gute Zeiten: interessante Ferien, Marlies organisiert ein Riesenfest zu meinem 50. Geburtstag, wir haben gute Freunde, die Freundschaften werden durch gegenseitige Besuche gepflegt, finanziell geht es uns nicht schlecht. Bruder Alfons war mehrere Jahre zuvor mit seiner Familie aus der Neuen Welt zurückgekommen in die Budapester Strasse, um zu den langsam alternden Eltern zu schauen... Viele Vorkommnisse in meiner Familie in München während dieser Zeit kann ich aus der Ferne betrachtet nicht eindeutig beurteilen, bestätigen jedoch weitgehend meinen Eindruck, dass jeder der Ludstocks irgendwie spinnt, aber glücklicherweise jeder ein bisschen anders; die grösste Ecke scheint leider der ehedem so vielversprechende jüngste Bruder abzuhaben. Der Schmerz über den Tod der Eltern ist dank der langen Entwöhnung erträglich, eine kleine Erbschaft eröffnet finanziell neue Perspektiven, wir leiten den Kauf einer Wohnung für spätere Zeiten in die Wege, falls das Haus einmal zu anstrengend werden sollte… ◼ Und dann folgt der Absturz: Marlies eröffnet mir eines Abends, dass sie fortgehen wolle von mir, weil sie sich (wie ich später erfahre bei einer dieser heimtückischen Klassenzusammenkünfte) neu verliebt habe; ich kann sie nicht zurückhalten. Nach vier Wochen zwischen unsinnigem Hoffen und Bangen packt sie ihre Siebensachen (inklusive Schwiegermutter) und zieht zu ihrem neuen Partner. Bis heute bemühe ich mich vergeblich, ihr Fortgehen zu begreifen. Das Loch. in das ich falle, scheint bodenlos, die Zukunft trostlos. am liebsten wäre ich tot. Eine vorübergehende Flucht ins Kloster, die Sorge um Markus und der Zuspruch guter Freunde hindern mich daran, diesen Zustand selbst herbeizuführen. Da der Entschluss von Marlies endgültig scheint und sie mit einer Heirat rechnet, verlange ich schweren Herzens die Scheidung, die drei Monate später ausgesprochen wird. Glücklicherweise können wir uns im finanziellen Bereich gütlich einigen. Ich bin sehr froh darüber, dass es uns beiden gelungen ist, die lange und wie ich hoffe nicht nur für mich wunderschöne gemeinsame Zeit in guter Erinnerung zu behalten. Möge Marlies wieder so glücklich werden, wie ich mit ihr sein durfte und wie ich jetzt wieder bin. Ich bin auch sehr froh darüber, dass Markus schon erwachsen war, als das alles passierte — er plante zu dieser Zeit bereits seinen Auszug — und dass ich mit den grossen Kindern nach wie vor gut auskomme. ❤ Um verständlich zu machen, was ich jetzt noch erzählen will, muss ich einige Jahre zurückgreifen: Zur gleichen Zeit, als wir in unser Haus einzogen, wurde auch das Nachbarhaus bevölkert; mit Janice und Karl entwickelt sich bald ein gutnachbarschaftliches Verhältnis, im Laufe der Jahre werden wir von Nachbarn zu Freunden. Eine Woche, bevor Marlies auszieht, teilt Janice uns mit, dass sie die Scheidung von ihrem Mann verlangen will, die kurze Zeit nach meiner eigenen ausgesprochen wird; als wir ihr eröffnen, dass auch wir auseinandergehen‚ fällt sie aus allen Wolken. So traurig diese weitere Scheidung sein mag, für mich entwickelt sie sich zum Glücksfall. Eines Sonntagabends, nach einem Sommer, in dem ich fast die Sonne nicht sah, sitzen Janice und ich, beide traurig und einsam, vor dem Haus. und das erstemal seit dem Weggehen von Marlies fragen wir uns gegenseitig, ob wir nicht gemeinsam ein Gläschen Wein trinken wollen, wie wir das früher oft zu viert getan hatten. Gefragt, getan, aus dem Gläschen wird ein Fläschchen, der Alkohol löst uns die Zunge, wir fangen an zu reden, zu erzählen, uns zu bedauern; sie spricht von ihren Plänen, nach Australien zurückzukehren, sobald ihre Söhne die Ausbildung abgeschlossen haben, ich rede davon, dass ich auch für mich allein bleiben wolle, wir schwelgen so richtig in Hoffnungslosigkeit und Pessimismus — und plötzlich küssen wir uns. Es ist ein anderer Kuss als die vorher üblichen Freundschaftsküsse. Aber trotz des Hungers nach Zärtlichkeit, trotz der Hitze des Alkohols behält die Vernunft noch die Oberhand. Obwohl ich einige Tage später ein Geburtstagsblümlein vor ihre Türe stelle, gehen wir uns wochenlang aus dem Weg, wir trauen der Idylle nicht, wir haben Angst vor neuen Verletzungen, wir wollen keine neue Partnerschaft, wir glauben nicht, dass wir einem Menschen wieder das Vertrauen schenken können, ohne das eine Gemeinsamkeit nicht möglich ist. Aber wir kannten uns doch schon viele Jahre, hatten uns auch gut verstanden, und so macht sich trotz aller Zweifel unbewusst schon die Hoffnung breit, dass es vielleicht doch eine Zukunft gibt. Und eines Tages ist die Natur stärker als alle Vorbehalte, aber auch dann beteuern wir uns gegenseitig noch, dass wir uns «nur gern haben». Trotzdem fangen wir an, Pläne für gemeinsame Ferien zu schmieden, Janice kommt mit nach München, wo sie ihren ersten richtigen «Frühschoppen» erlebt, meine Familie kennenlernt; die Zukunft bekommt langsam wieder ein Gesicht. In dieser Zeit schlägt der «Boandlkramer» erbarmungslos eine erste Lücke in unseren Kreis: Herbert, der solideste von allen, stellt vorzeitig das Glas endgültig ab. Memento mori! Janice und ich begreifen langsam, dass das Leben uns eine zweite Chance gibt; ich weiss nicht mehr, wer dem anderen zuerst sagt, dass er ihn liebt, aber wir wissen beide, dass es so ist. Zwar zieht Janice nach dem Verkauf ihres Hauses mit ihren Söhnen vorübergehend in eine Wohnung (die Söhne sollten ja nicht das Gefühl haben, sie würden fortgeschickt), aber während unserer gemeinsamen Ferien in Australien fällt bei mir die Entscheidung: ich würde sie bald einmal fragen, ob sie mich heiraten wolle — einzige Bedingung, sie sollte vorher für eine Woche bei mir wohnen. Die Woche wurde überschritten — meist nachts — und dann kam sie wirklich endgültig zu mir: mit unseren Söhnen als Trauzeugen sagten wir vor der Standesbeamtin ganz offiziell Ja zueinander. Kirchlich können wir nicht mehr heiraten, aber im Kapuzinerkloster‚ zu dem ich seit meiner «Flucht» eine besondere Beziehung habe und das auch Janice überzeugt, erleben wir anlässlich unserer Vermählung eine ergreifende Feierstunde im Kreise der Brüder und unserer Söhne, die vielleicht tiefer geht als eine normale Trauung. Und wenn ich es nicht selbst erleben dürfte, der ich doch eigentlich das ganze Leben (mit der einen Ausnahme!) vom Glück begünstigt war, würde ich es nicht glauben, dass ein Mensch zweimal im Leben ein solches Glück haben kann. Ich möchte allen danken, die immer wieder zu diesem Glück beigetragen haben; möge der treue Gott in seiner grenzenlosen Liebe es ihnen vergelten. ☛ Ein winziger Wermutstropfen in meinem Meer von Glück ist vielleicht, dass ich nach 46 (in Worten: sechsundvierzig) Jahren emsigster! Arbeit bald als einziger aus der ganzen Runde immer noch volle 1826 Tage (wie meinte doch ein wohlmeinender gleichaltriger Freund, seit Jahren im beschaulichen Ruhestand lebend, tröstend: «Es war halt schon immer etwas Besonderes, in der Schweiz leben zu dürfen.» Deutschland, was ist aus dir geworden!) darauf warten muss, die Wärme. die Janice mir schenkt. eventuell mit der Wärme in ihrer faszinierenden Heimat zu multiplizieren... aber das wird dann wieder eine andere Geschichte.
Georg
1997